Die Problematik der ästhetischen Indifferenz
Ist es mein Unvermögen, wenn mich beim Setzen von Notenköpfen, der Entscheidung für einen rhythmischen Wert und der Ausarbeitung des formalen Aufbaus hemmendes Unbehagen befällt? Wenn dieses Unbehagen so groß wird, dass das Komponieren ganz in Frage gestellt wird? Wenn der Zustand von Vielfalt mein Schaffen aporetisch unterwandert? Ja und Nein. Ja, weil ich dem hemmenden Gefühl einer Austauschbarkeit und Beliebigkeit meines Schaffens in einem solchen Moment der Bewusstwerdung nicht gewachsen bin und keine klingende Alternative zu geben weiss. Nein, weil ich mich den herrschenden Werten der Gesellschaft nicht entziehen kann. Schaut man sich ein wenig um, kann in unterschiedlichsten Tätigkeitsfeldern Beliebigkeit und Austauschbarkeit – Indifferenz – konstatiert werden. Es handelt sich um ein kulturelles Phänomen.
Die Beschäftigung mit der Figur der Indifferenz führte mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und Konzepten. Erst die Nähe zu wissenschaftlichen Weltbeschreibungsmodellen ermöglichte es mir, ästhetisch konstruktiv mit der Figur der Indifferenz umzugehen. Diese theoretischen Auseinandersetzungen sind zum Ausgangspunkt meiner künstlerischen Produktion geworden, und sie werde ich im Folgenden nachzeichnen. So ist dieser Beitrag als ein Grenzgang zwischen der Kunst und der Wissenschaft zu verstehen, wobei ich immer aus der Position eines Komponisten schreibe und nie aus der Position eines Wissenschaftlers. Dieser Artikel erhebt niemals den Anspruch, eine Beschreibung oder Analyse der komplexen Zusammenhänge von gesellschaftlichem Pluralismus, Kunstproduktion und ästhetischen Bewertungen zu sein. Aus meiner Perspektive als Komponist versuche ich nachzuzeichnen, welche Überlegungen meiner künstlerischen Arbeit zur ästhetischen Indifferenz zugrunde liegen. Meine Ausführungen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und ebenso wenig auf eine Lösung des Dilemmas. Dennoch hoffe ich, mich damit diskursiv in alternative künstlerische Modelle einfügen zu können, und, zusammen mit den anderen Beiträgen dieses Buches, die Problematik generell bewusster zu machen.
Die weitreichende Recherche zur Situation der heutigen Komposition führte immerhin dazu, dass mir klar wurde, wie ich zurück zur Kunstproduktion gelangen könnte.
Die Figur der ästhetischen Indifferenz und der musikalische Liminal-Raum. Das Projekt-Limina. (2007)
Ein ‚Ende der Kunst’ ist nur in einem Zustand vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation. H. Marcuse.
Einleitung
Ein gewöhnlicher Donnerstagabend in einer grossen Schweizer, aber kleinen Weltstadt: Das Ensemble U(n)-Vermögen(d) stellt Werke des Komponisten John P. aus den Bahamas vor und kontrastiert diese mit dem bislang kaum bekannten Schweizer Komponisten Ueli M aus dem 18. Jahrhundert (der erste Komponist, der Postkutschenabfahrtszeiten vertonte). Zur gleichen Zeit spielt die junge Panflötistin Heidi S. Werke ihres ehemaligen Lehrers in der Kirchgemeinde U. und das Trio Lichtgestalt improvisiert über mysteriöse Geräusche der stillgelegten Schweissfabrik. Daneben werden in den etablierten Häusern W.A.M. und L.v.B zum x-ten Mal rauf und runtergeleiert und im Opernhaus brechen, wie meist nach den Darbietungen der Singstars, Tokio-Hotel-ähnliche Hysterien der gestandenen Damen aus.
Die Aufzählung wäre noch zu ergänzen, wenn man mit einem Mausklick recherchieren würde, was denn gerade in den richtigen Weltstädten so alles gespielt wird. Und in diesem Universum an Klängen reihe ich mich ein, ein Staubkorn, und versuche gerade, meinen ach so innovativen Klang dazu zu komponieren. Eine Zeit lang ging das gut, bis das Wissen um diese unendliche Vielfalt meine Produktivität blockierte. Diese Vielfalt, so dämmerte es mir bald, ist nur möglich, weil Indifferenz jegliches Qualitätsurteil ad absurdum führt. Machen ist das Schlagwort, was, das ist erstmal zweitrangig. Es setzte eine Phase des kompositorischen Stillstandes ein, die Fragen evozierte. Wie ist es dazu gekommen, dass unsere Gesellschaft Mühe bekundet, ästhetische Differenz zu setzen? Pluralismus (wogegen generell nichts einzuwenden wäre) und ästhetische Differenz scheinen sich zu verhalten wie der Teufel und das Weihwasser: sie vertragen sich schlecht. Sind wir tatsächlich in der ,düsteren Zeit’ im Endstadium der Kunst angelangt, die Marcuse im Eingangszitat befürchtete?