Die gedemütigte ernste Musik

Dec 1, 2017

Die gedemütigte ernste Musik

Positionen 133, November 2017

Unsere Sinne sind Schnittstellen zwischen uns und der uns umgebenden Umwelt. Sie sind unerlässlich für unser Überleben, wenden Gefahren ab, signalisieren Chancen und legen die Basis für Interaktionen mit der Umwelt. Wir sehen, riechen, schmecken, fühlen und hören; drei Sinne decken Wahrnehmungen ab, die durch direkten Kontakt mit unserem Körper ausgelöst werden, zwei, das Sehen und das Hören, nehmen Dinge wahr, die von unserem Körper getrennt sind. Im Zusammenspiel der Sinne erlangen wir ein mehrdimensionales Bild unserer Realität.

Die Musik und der Hörsinn

Da das Zusammenspiel der Sinne im Alltag Normalität ist, ist die Konzentration auf einen Sinn ein besonderes, da künstlich, vom Menschen geplantes und konstruiertes Erlebnis. Aus den »Distanzsinnen«, dem Sehen und dem Hören, haben sich zwei darauf spezialisierte Künste entwickelt: die bildenden Künste und die Musik. Die Fokussierung auf einen Sinn öffnet das Tor zu einer künstlichen Welt, die die Komplexität des Zusammenspiels der fünf Sinne ausklammert, um sie in nur einen Sinn aufgehen zu lassen. Der interpretierende Verstand reichert die Fokussierung auf einen Sinn seinerseits mit Empfindungen an, seien es körperliche Reaktionen (»diese Musik lässt mich erschaudern!«), seien es emotionale Stimulationen. Da die sinnliche Eindimensionalität der Seh- und Hörkünste nie deckungsgleich ist wie die sinnliche  Mehrdimensionalität der alltäglichen Erfahrung, lässt der Graben zwischen beiden Bedeutung aufscheinen: die Sinneneindimensionalität simuliert Sinnenmehrdimensionalität – ob in den bildenden Künsten oder in der Musik. Die Simulation regt die ganze Bandbreite der im Bewusstsein und Unterbewusstsein gespeicherten Erfahrungen an. Da die Musik die Sinnenmehrdimensionalität in abstrakter, das heißt nicht-begrifflicher und nicht-figürlicher Weise simuliert, wird besonders jenes angeregt, welches seinerseits nicht-begrifflich und nicht-figürlich ist: Empfindungen und Emotionen. Der Vielfalt von musikalischen Simulationen der Sinnenmehrdimensionalität sind keine Grenzen gesetzt. Ebenso wenig sind die daraus angeregten Empfindungen und Emotionen in ihren unendlichen Nuancen irgendwann ausgeschöpft.

Musik ist auf nichts als sich selbst angewiesen, ein eigenes, unendliches Reich.

Und trotzdem stellen wir Unmut gegenüber diesem übermächtigen Reich fest, ganz besonders in jenen musikalischen Ausdrucksformen, die wir wahlweise »neue Musik« oder »ernste Musik« nennen.[i] Gibt es musikalische Gründe, weshalb just jene musikalische Ausdrucksform an Grenzen stösst? Kaum. Auch im Stile der ernsten Musik sind den musikalischen Ausdrucksweisen keine Grenzen gesetzt.

Gesellschaft richtet

Es gibt jedoch kein Reich, weder das der Religionen, noch das der Musiken, welches nicht menschengemacht wäre. Diese Reiche gedeihen und verblühen mit Gesellschaft. Mögen sie noch so mächtig sein, zuletzt richtet die Gesellschaft ihr Schicksal. Und offensichtlich hat die Gesellschaft gerichtet: Die ernste Musik geriet im Lauf der letzten rund dreißig Jahre in den Strudel der Indifferenz, welche nicht nur sie, sondern die westliche Kultur im Gesamten erfasst hat. Sie verlor ihren roten Faden, ihre Bewertungskriterien, ihre Avantgarde.

[i] Aufgrund des sich haltenden metaphysischen Bodensatzes bevorzuge ich die Bezeichnung »ernste Musik«. Ernsthaftigkeit und (metaphysische) Wahrheit standen in direktem Zusammenhang in zahlreichen Philosophien. Solange der metaphysische Bodensatz besteht macht es daher Sinn, den Begriff »ernste Musik« zu verwenden.

 

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