Freiheit ist euer Wert? – ein Interview

Apr 26, 2016

Erschienen in der Neuen Zeitschrift für Musik (2/2016). Hier können Sie das ganze Heft bestellen.

Freiheit ist euer Wert?

PATRICK FRANK’S KÜNSTLERISCHE REFLEXION AUF DEN FREIHEITSBEGRIFF

Mit seiner «Theorieoper» Freiheit – die eutopische Gesellschaft, die 2015 in Donaueschingen zur Uraufführung kam, hat der in der Schweiz lebende Komponist Patrick Frank die Musik zweifellos um ein neues Format bereichert. In einer Kombination aus Ausstellung (von Plakaten aus Politik und Wirtschaft), Wohlfühl-Ambiente (Biertische und Brezeln),Vakademischer Vorlesung, konzerthafter Darbietung, Videoeinspielung, Theater, Performance und Live-Hörspiel, die simultan wie sukzessive abliefen, schickte er sich an, den Diskurs über den Freiheitsbegriff des westlich-kapitalistischen
Werte- und Wirtschaftssystems zu führen. Frank selbst lieferte dazu zwei Mash-ups aus Texten und Musik von Bach bis Kreidler, von Heine bis Baudrillard (Freiheit als Utopie und Freiheit in Eutopie). Außerdem bat er seine
Kollegen Trond Reinholdtsen und Martin Schüttler um eigenständige musikalische Beiträge, die sich in irgendeiner Weise auf das gesetzte Thema bezogen. Das Unterfangen fand geteilten Widerhall bei Publikum und Presse. Dabei lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem neuen Genre.

Rolf W. Stoll sprach mit Patrick Frank.

Von Vornherein, so schreiben Sie, sei Ihnen klar gewesen, dass Sie sich, das Projekt und vermutlich auch das Publikum mit Ihrem Konzept überfordern würden. Sind Ihre Ahnungen erfüllt worden?
Selbstverständlich. Das Thema Freiheit ist immer eine Überforderung, und diese plante ich, durch die Pluralität von Disziplinen, Dichte und Diversität von Inhalten in der Inszenierung abzubilden. Wir vergessen gerne, auf welch unheimlich komplexer Idee, die voller Paradoxien steckt, die westliche Kultur basiert. Ein Außerirdischer würde uns vermutlich auslachen: «Freiheit ist eurer Wert?!» Es war mir insofern ein Anliegen, das Projekt selbst paradox und überfordernd zu gestalten, nicht zuletzt durch das Zulassen
von Unvorhergesehenem (z. B. Trond Reinholdtsens Wiesenspektakel, Daniel
Hellmanns Rückenmassage des Pianisten auf der Bühne, etc.). Ich wollte Langeweile und Kurzweile, Plumpes und Differenziertes, Eigenes, Angeeignetes und Fremdes zulassen. Auch die teilweise großen kulturtheoretischen Thesen musste ich aus Gründen der künstlerischen Konsequenz teilweise mit sprachlichem Müll zerstören, sie ins Lächerliche ziehen oder auf nur einen Satz reduzieren. Dies kalkulierend setzte ich auf das Programmheft mit dem Abdruck des Librettos und der Dokumentation.

Im Programmheft zur Donaueschinger Aufführung lese ich: «Die Zusammenführung von Musik und diskursiven Disziplinen ist mir seit vielen Jahren ein wichtiges Anliegen». Demnach halten Sie Musik nicht für eine diskursive Disziplin. Was ist Musik denn dann für Sie?
Musik, wie auch die Malerei, sind für mich Disziplinen übersetzter Diskursivität,
oder allgemeiner formuliert: übersetzter Kommunikation. Ihre Aussagen sind zugleich metaphorisch-offen und präzisegeschlossen. Mit ‹Diskursivität›, so wie ich es im Programmheft intendierte, meinte ich unmittelbare, nicht-künstlerische, durch Sprache artikulierte Diskursivität.

Sie optieren für eine Neue Musik im Dienst eines kritischen Bewusstseins, das die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes in den Blick nimmt. Einen ähnlichen Anspruch hat die sogenannte politische Musik der 1960er und 1970er Jahre stets betont. Ein weiterer programmatischer Anspruch jener Zeit nannte sich «die Versöhnung von Kunst und Leben». Sie knüpfen allerdings nicht an diese Traditionen an …
Die Utopie der der Versöhnung von Kunst und Alltag wurde in der Avantgarde formuliert; die Forderung des kritischen Bewusstseins ist demgegenüber viel älter: es ist ein modernes Anliegen. Erstere ist an ihr Ende gekommen und somit auch die Utopie der Verschmelzung von Kunst und Alltag. Nicht aber die Forderung eines kritischen Bewusstseins: Die gescheiterte Postmoderne hat uns gelehrt, dass die Moderne Bestand hat und somit auch das kritische Bewusstsein erneuert werden muss. Aus der Lethargie der Kritik – verursacht durch die Verheißungen der Postmoderne – bricht unsere Kultur langsam aus, und ich versuche mich in einer Neubeschreibung der kritischen Strategie. Dass diese nicht gleich ausfallen wird wie die avantgardistisch-widerständige Kritik ist klar: Das Experiment «Postmoderne» hat tiefe Spuren hinterlassen, deren Auswirkungen sich bis hinein in den Wandel der kritischen Strategie
ziehen.

Die Musik der Avantgarde, sagen Sie, laufe Gefahr, ihre gesellschaftskritische Aufgabe zu verlieren. Woran machen Sie diesen Befund fest? Und: Ist nicht jede Musik, auch die Neue, unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus lediglich Kulturware?

Tatsächlich ist die kapitalistische Vereinnahmung der Kultur dermaßen fortgeschritten, dass sie immer vorausgesetzt werden muss. Das verunmöglicht aber nicht Kritik, es erfordert vielmehr neue Strategien, die diese Vereinnahmung selbst vereinnahmen. Nicht ohne Grund sind subversive Strategien heute wirksam, wenn es um Kritik geht. Die Rechtspopulisten haben es seit der eutopischen Phase [die eutopische Phase dauerte lt. Patrick Frank vom 11.9.1989, dem Tag des Mauerfalls, bis zum 9.11.2001, dem Anschlag auf das World Trade Center in New York, Red.] vorgemacht: Es wird mit jenen Dingen geworben, die kritisiert und reformuliert werden sollen. Bedeutungen
werden nicht zurückgewiesen und bekämpft, sondern umgedeutet.
Rechtspopulisten argumentieren stets mit demjenigen, das sie beseitigen wollen: Mit Meinungsfreiheit wird Meinungsfreiheit eingeschränkt, usw.; freilich ohne das Ziel der Umdeutung auszusprechen. Vielmehr werden exakt die Gesten und Zeichen der verblichenen kritischen Linken gekapert und in ihr Gegenteil gekippt: Die Linke und ihre auf den Humanismus gründenden Ansichten sind jetzt das «Establishment», die Rechtspopulisten und ihr reaktionär-totalitärer Traum die «Befreier». Diese affirmativ-subversive
Strategie versteckt die Vereinnahmung, spielt mit ihr, setzt sie gar voraus. Der
französische Philosoph Alain Badiou spricht von einer «affirmativen Dialektik»,
die die hegelianisch-widerständige Dialektik ablöse. Meine Beobachtung der affirmativ-subversiven Strategie, welche anstelle der offenen Widerständigkeit wirksam wird, ist diesem Gedanken verwandt. Es geht also darum, den Vereinnahmungen – nicht nur den kapitalistischen – einen Schritt voraus zu sein. Konkret versuche ich in meinen Projekten selbst subversiv vorzugehen: Beispielsweise erteilte ich als Auftragnehmer weitere Aufträge an Dritte (ich entschied zwar früh ein großes Projekt aufzuführen, jedoch keinen einzigen ‹Neue-Musik-Ton› für die heiligen Hallen der Donaueschinger Musiktage zu komponieren, stattdessen das Komponieren von Disziplinen zu versuchen). Ich inszenierte Indifferenz dann, wenn der Sprecher einen theorielastigen Vortrag über Indifferenz vorträgt – was dazu führt, dass man nichts von dem, was er sagt, versteht, dieses aber im Libretto nachlesbar ist, etc. Ich mag aber auch die Idee, die subversive Strategie auf das eigene Leben zu beziehen: Das wäre der Versuch, Quantitäten anzuhäufen, um diese anschließend in Qualitäten
umzuwandeln. Die Qualitätsquantifizierungen umkehren.

Die Verengung der Vernunftkategorie auf den Aspekt der Nützlichkeit, ihre Instrumentalisierung, habe, so argumentieren Sie, einen «Revisionsdruck» zur Folge gehabt. Das Neue, das im Zuge von Freiheits-Utopien als «Erneuerung» Bedeutung erlangte, sei im Geist eines hegelianischen Fortschrittsgedankens
auch zum Gründungsmythos der Neuen Musik geworden. Wie verhalten Sie sich, wie verhält sich Ihre Theorieoper selbst gegenüber diesem Zwang zum Neuen?
Das Scheitern der Postmoderne bedeutet eine Reaktualisierung der Idee des
‹Neuen›. Die Postmoderne hat uns aber gelehrt, dass das Neue differenzierter betrachtet werden muss. Kulturtheoretisch aus der Perspektive von Quantität und Qualität beobachtet: Hinsichtlich der Quantitäten, also dem Rationalismus und den ihm zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen
und kapitalistisch-industriellen Entwicklungen, lässt sich unzweifelhaft ein
Fortschritt feststellen: Wir leben heute länger, gesünder, bequemer, usw. Quantitativ besehen hatte Hegel also Recht mit seiner Teleologie. Qualitativ betrachtet, letztlich die Beantwortung der Frage des Geworfen-Seins in Existenz – Warum lebe ich, obwohl ich das nicht wollte? Was ist der Lebenssinn? etc. – sind wir keinesfalls weitergekommen – mehr noch: Das Gegenteil muss angenommen werden. Da hatten sich die Moderne und ihre Aufklärung offenbar
zu viel vorgenommen: Über Qualitatives lässt sich kaum aufklären oder zumindest nicht so, wie es versucht wurde.
In der Idee des Neuen stecken basale Charakteristika der westlichen Kultur. Ich
empfinde das ‹Neue› als Untersuchungsgegenstand, insofern keinesfalls als Zwang, im Gegenteil: Damit lässt sich viel produktive Theorie und Kunst machen. In der Neuen Musik hingegen ist, im Gegensatz zum Theater oder zur bildenden Kunst, die avantgardistisch-widerständige Strategie der Kritik (die in heutiger Zeit nicht wirksam sein kann) noch immer sehr präsent – affirmativ-subversive Strategien und ihre künstlerischen Resultate werden denn auch oft missverstanden.

Heißt das, die Komponisten-KollegInnen sind in der Mehrzahl auf dem Holzweg? Enno Rudolph stellte ja am Ende seines Vortrags «Die Vernunft – Zuchthaus der Freilinenheit?» die nicht unberechtigte Frage: «…kommt es den Künstlern nun nur noch darauf an, die treffenden Fragen zu stellen?» Sie würden damit, so Rudolph, «zu Künstlern vom Dienst», die ihren Dienst am Zeitgeist erfüllten … Wozu würden Sie raten?
Ich möchte hier zwei Antworten geben. Erstens: Über das ‹klassische› Komponieren im Sinne des l’art pour l’art mache ich mir in der Neuen Musik keinerlei Sorgen. Die Helden der Kompositionsgeschichte (ausschließlich Männer), von Palestrina bis Lachenmann, sind institutionell dermaßen tief verankert, dass niemand den Verlust des klassischen Tonsetzers befürchten muss. Und das ist auch gut so. Ich empfinde es aber als ebenso notwendig, die klassische Tonkunst mit zeitgenössischen Strategien zu konfrontieren. Ich rate zu größerer Umsicht: Schaut euch in den Theaterkünsten um, schaut euch in der bildenden Kunst um, schaut euch in der kulturtheoretischen Gegenwartsdiagnostik um: Unsere Nachbarkünste sind uns in mancherlei Hinsicht um Jahrzehnte voraus. Ihre Strategien inspirieren und lassen sich durchaus – Kreativität und Handwerk vorausgesetzt – auf die Komposition übersetzen. Die meisten Komponisten werden jedoch, verständlicherweise, auch weiterhin ‹nur› Noten setzen und sich auf die Kompositionstradition beziehen. In den künstlerischen Strategien der Nachbarkünste steckt aber das Potenzial, die Neue Musik zu (re)-vitalisieren.
Zweitens: Die Kunst, die ich mache, mache ich aus purer Schaffenslust. Ich quäle mich keineswegs mit dem Schreiben von Theorien oder dem Konzipieren
von Kunstprojekten; vielmehr würde es mich quälen, ein immanentistisches
08/15-Neue-Musik-Werk für, sagen wir mal, Orchester zu schreiben. Es ist die
Lust am Zeitgeist, die mich antreibt, nicht der moralisch motivierte Dienst für eine bessere Welt. Es wäre etwa so, als sei nur ein metaphysisch denkender Philosoph ein ‹wahrer› Philosoph, nicht aber ein Dekonstruktivist oder ein Poststrukturalist etc. Der Wunsch, dass der Künstler sich dem Zeitlosen, dem Metaphysischen widmen solle, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Engagement und Lust schließen sich in meinem Fall aber nicht
aus, sie bedingen einander.
Auf dem Holzweg sehe ich hingegen alle Epigonen der Kunst, gleichgültig
welcher Disziplin, ob mit oder ohne Töne, für Orchester oder Käsekuchen
komponierend. Auf dem Holzweg befinden sich auch alle Opportunisten, die nur
den eigenen Vorteil im Blick haben und ihn auf Kosten der Gemeinschaft – auch
der Neue-Musik-Gemeinschaft – durchsetzen. Wir sollten unsere tief verankerte
Dogmen-Haltung über Bord werfen. Versuchen wir doch in unserer kleinen Spezialistendisziplin pluralistisch zu sein: Immanentisten nebst Dekonstruktivisten, Utopisten nebst Eutopisten. Nicht die künstlerische Strategie sollte Anlass zur qualitativen Differenz sein, sondern eher die künstlerische Haltung und, so schwierig es im Kontext einer postdogmatischen,
pluralisierten Neue-Musik-Szene ist, die Qualität eines Kunstwerks.

Wie entwicklungsfähig ist das Format der Diskurs-Komposition? (Im Februar diesen Jahres hat es bereits eine weitere, veränderte Aufführung Ihres Stücks in Zürich gegeben.)