in: Musiktexte 125 (2010)
Replik zur Debatte um die Digitalisierung der Neuen Musik
von Patrick Frank
Danke! möchte man den Autoren zurufen. Endlich ein Diskurs, der offenkundig Emotionen hoch kochen lässt. Im ruhigen Fahrwasser der domestizierten Neuen Musik, deren Domestikation am Deutlichsten in der weitgehenden Absenz von Kontroversen sichtbar wird, ist dieser Diskurs belebend. Lehmann startete die Kontroverse mit einem Gedankenexperiment, welches provokativ die Musik im Kern attackiert, Mahnkopf antwortete mit einer Kritik, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Wunderbar. Zeichnet sich hier ein Erwachen aus dem komatösen Zustand der Neuen Musik ab? „… denn heute ist die Kunst verschwunden, weiß dies aber nicht, was das schlimmste
ist, und zieht in einem überholten Koma ihre Bahn.“ 1
Im folgenden Artikel werde ich nicht auf sämtliche Thesen des Diskurses eingehen; ich beschränke mich auf die Rolle, welches das digitalisierte Material aus der Perspektive des Komponisten einnehmen könnte. Ich möchte zeigen, dass Lehmanns Theorie der gehaltsästhetischen Wende 2 nicht im Widerspruch steht mit dem Gedankenexperiment der Digitalisierung 3. Dies reflektie-
rend, öffne ich das Feld und ziehe Lehmanns Theoriemodell der reflexiven Moderne und einige Aspekte aus Jean Baudrillards Beschreibung gegenwärtiger Kunst hinzu.
Mahnkopf hat aus der Sicht des ‚traditionellen‘ Komponierens, in der die künstlerische Idee (nur) mit kompositorischen Mitteln eingelöst wird, in der es – auch in Zukunft – um differenzierte Klanglichkeit und Musikalität geht, durchaus Recht; das Problem ist nur, dass Lehmanns Gedankenexperiment gerade nicht davon handelt: Es experimentiert mit dem Gedanken, dass das Komponieren durch die Digitalisierung auch anders denkbar ist. Die weitreichenden Schlussfolgerungen, die er daraus zieht (‚Demokratisierung‘, ‚Institutionskritik‘, et cetera) müssen keinesfalls geteilt werden – die Thematisierung ist dennoch wichtig.